Man könnte sagen: Die Einhaltung einer einheitlichen schriftlichen Sprachnorm erleichtert die Rezeption. Ist die Fehlerfrequenz eines Textes zu hoch und überschreiten Fehler die Wahrnehmungsschwelle, mischen sich in die Rezeption Gefühle von Irritation: Das Lesen stolpert. Abweichungen von der Sprachnorm kommen als Störung ins Bewusstsein. Je nach Empfindlichkeit kann sich eine Art Beziehungsstörung zum Text entwickeln, die Zweifel an Seriosität und Gründlichkeit entstehen lässt.
Doch für welche Rezipienten welcher Textsorten gelten diese Ansprüche an Texte überhaupt noch? Ist nicht inzwischen eine Mehrheit recht gelassen gegenüber Abweichungen von der idealen Schriftsprache?
Eine vorläufige Erklärung dafür: Das Internet mit seinen Möglichkeiten des Self-Publishing hat die Öffentlichkeit revolutioniert, indem nun potentiell jeder Mensch Texte publizieren kann. Die Kriterien für den Erfolg eines Textes liegen nicht mehr unbedingt in seinen sachlichen oder ästhetischen Merkmalen, sondern in der Befriedigung eines unmittelbar subjektiven Geleitet- oder Betroffenseins der Rezipienten, auf die hin er häufig sogar schon verfasst wurde.
Texte im World Wide Web zu finden, bedeutet, vorher einen maschinellen Prozess des Matchings von Suchanfragen initiiert zu haben. WWW-Texte sind zu einem großen Anteil Gebrauchstexte, die auf einem riesigen Jahrmarkt kursieren. SEO-Strategien sind Marktschreier- und Marketingstrategien, die sie mittels formaler und inhaltlicher Manipulation in den Vordergrund der Sichtbarkeit drängen sollen, damit sie Kapital generieren. (Sei es direktes Finanzkapital, Credibility oder Fame.) Der sachliche Gehalt eines Textes tritt in den Hintergrund, wenn das ursprüngliche Interesse darin liegt, eine breite oder eine passende Öffentlichkeit beziehungsweise Kunden zu finden. Einen abstrakten Text mit diffusen Stichworten darf es theoretisch in einem Dienstleistung-Blog nicht geben.
Publizieren war im analogen Zeitalter eine Domäne der bürgerlichen Intellektualität, es war im Bereich der Hochkultur von den Idealen der Aufklärung geprägt.
Der Weg vom Manuskript zur Veröffentlichung war vielschrittig und dadurch zeitlich gedehnt. Zwischeninstanzen waren mindestens Verleger(in), Lektor(in) und Setzer(in). Beim akademischen Publizieren auch noch Gutachter und „akademische Peers“ wie Kolleginnen oder Studierende.
Autoren und Autorinnen schrieben an die Zukunft, an zukünftige, ideale Rezipienten. Die Texte selbst standen nicht so stark wie heute ganz unmittelbar auf dem Markt und wurden nicht ausschließlich nach den Kriterien des Marktes beurteilt. Damit allein schon ist das Schreiben auf dem analogen Kanal in einem viel stärkeren Ausmaß ent-subjektiviert. Analog publizierte Texte enthalten eine Art Ewigkeitsanspruch, der auch in formaler Hinsicht ausgedrückt wird. Zum Beispiel durch Einhaltung von Sprachnormen, in der Gestaltung des Drucks in Typographie und Satz oder in verlegerischen Entscheidungen wie der Einordnung eines Textes in Reihen oder des Eingehens von Finanzierungsrisiken.
Im Netz (wie hier in diesem Blog) steht zwischen Verfassen und Veröffentlichen eines Textes häufig nur ein einziger Schritt (das Drücken des Publish Buttons), wonach er so viele Leser findet, wie er von Lesern gefunden wird …
Im Netz existieren viele Textformen, in denen auffällige oder sogar bewusste Abweichungen von der Sprachnorm toleriert werden, denn die mediale Öffentlichkeit hat sich in vielen Bereichen von elitärem Expertentum und exklusiver Intellektualität gelöst. Positiv ausgedrückt: demokratisiert. Pessimistischer formuliert: vielfach den Anspruch an Rationalität aufgegeben.
In Blogs, Foren, Kommentaren, Portalen kann jeder Mensch (mit Zugang zum Netz und Kenntnis einiger technischer Details) schreiben, was ihm gerade durch den Kopf geht. Das „Gerade“, also der subjektive Gegenwartsbezug, ist entscheidend. Mit dem Grad der Subjektivität nimmt aber auch der formale Anspruch an Texte ab.
Das digitale Lesen bedeutet häufig eher ein Abgrasen von Information. Die gesuchte Information ist dabei meist lebens- oder problemnah, also von persönlichen Interessen geleitet. Weil das browsende Lesen konsumptiv auf Verwertung von Inhalten (oder Befriedigung von Emotionen) ausgerichtet ist, kann es den Anspruch an formale Richtigkeit aufgeben.
Die Ausweitung der Öffentlichkeit durch das Medium des Internets, spezieller des Word Wide Webs, bedeutet eine Privatisierung, Entpolitisierung und Emotionalisierung von Inhalten, damit steigt die Fehlertoleranz gegenüber formalen Aspekten.
Warum also überhaupt noch Sprachnormen einhalten?
Die Erwartung an Einhaltung von Sprachnormen findet sich weiterhin in der Publizistik und Literatur einer bürgerlichen Hochkultur, die sich allerdings immer mehr in Inselbereiche zurückzieht oder ihre feste Leserschaft in Nischen (wie der Academia) findet. Sie besteht weiterhin in hierarchischen Kontexten, in denen Texte begutachtet werden und die Beurteilung über den weiteren Lebenslauf der Verfasser(innen) entscheiden kann. Eine gute, fehlerfreie Schreibe ist in einigen Bereichen der heutigen Kultur aus unterschiedlichen Gründen nach wie vor also Auszeichnungsmerkmal für Qualität. Lektorate werden daher relevant bleiben.
Doch auch im Bereich der breiteren digitalen Öffentlichkeit könnte das Einhalten von Sprachnormen mehr als Pedanterie bedeuten: Wer versucht, seine Texte fehlerarm (fehlerfrei geht es selten) zu verfassen, wer sich also Zeit nimmt für kritische Relektüren, ohne SEO-Kriterien über Form und Inhalte entscheiden zu lassen, distanziert sich von der Warenwelt der Unmittelbarkeit und orientiert sich an einer Rationalität, die möglichst viele, also nicht nur Kunden oder Gleichdenkende, an einer Lektüre teilhaben lässt und damit weitere Räume als das begierige Hier und Jetzt eröffnet.
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