Die politische Rhetorik hat sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. Am auffälligsten scheint dabei die Konjunktur der „Menschen“, eine Vokabel, über die ich mich gelegentlich wundere. Gemeint wird mit „den Menschen“ in innenpolitischen Debatten, in Reden, Interviews, politischen Äußerungen meist diffus so etwas wie „die Gruppe aller Personen, die in Deutschland lebt.“
Dabei ist eigentlich klar, dass über solch eine Gruppe eigentlich nur wenige zutreffende Aussagen getroffen werden können, da sie durch und durch heterogen ist. Dennoch wird „den Menschen“ meist eine Einigkeit in den Bedürfnissen und Einstellungen unterstellt. Es gibt kein Aufbegehren gegen diese einlullende Phrase.
Ich habe zwei Plenarprotokolle aus dem Bundestag, eines aus dem Juli 1980, das andere von Ende Juni 2017, auf den Gebrauch von „Menschen“, „Bürgern“, „Wählern“ und „Leuten“ hin – recht kursorisch – miteinander verglichen und fand schnell bestätigt, dass die Phrase von „den Menschen“ heutzutage viel häufiger und umfassender verwendet wird. Zunächst meinte ich, das liege wohl daran, dass man mit „Menschen“ heutzutage geschickt die Nennung von männlicher und weiblicher Form („Bürgerinnen und Bürger“) umgehen kann, dass ihre Konjunktur also mit Faulheit beim Sprechen zu tun hat.
Doch dann fiel mir etwas Frappierendes auf: 2017 sind „die Menschen“ meist Leidende oder emotional und existentiell Betroffene, die durch politisches Handeln in bessere Positionen gebracht werden sollen. Es geht den Abgeordneten zum Beispiel darum,
- „die teilweise Rücknahme von Rentensenkungen auch den Menschen zugutekommen zu lassen“;
- „Menschen sicher und unfallfrei an Orte zu bringen, an die sie gelangen wollen“;
- dass „Menschen … möglichst lange zufrieden und gesund arbeiten können“;
- dass „Menschen … Angst haben“;
- dass „Menschen mit Wohnraum versorgt werden“ sollen;
- dass „viele Menschen, die große Sorge haben, dass sie sich das Leben in ihrer angestammten Wohnung nicht mehr leisten können“;
- dass „Menschen vor Ort aller Voraussicht nach die Leidtragenden sein werden“.
Daneben werden auch spezielle Gruppen gern als „Menschen“ bezeichnet: Menschen mit Migrationshintergrund, Menschen mit Handicap, Menschen in den Pflegeberufen, pflegebedürftige Menschen …
In der Plenarsitzung von 1980 war zwar an einer Stelle ebenfalls paternalistisch von „Verbesserungen für unsere Menschen“ die Rede, doch hatte der Gebrauch von „Menschen“ damals vorwiegend einen abstrakt-philosophischen Anklang:
- „die Unausweichlichkeit einer Gewissensentscheidung von Menschen“,
- „die Friedensliebe sterblicher Menschen“,
- „Menschen, die ein Grundrecht wahrnehmen wollen“,
- „Vorgänge bewerten, die zu den internsten gehören, die im Menschen vorgehen“,
- „Gewissen von Menschen“
- „Ganzheit des Menschheit und seine unantastbare Würde“.
Es handelte sich also um einen ethischen Menschen, der bestimmte konstruktive innere Voraussetzungen wie Vernunft, Gewissen und Ethik mitbrachte, durch die Politik und Gemeinwesen erst gelingen. Es ging um Menschenwürde und Menschenrechte, denn der Mensch war ein universalistisches Konstrukt. Heute sind „die Menschen“ dagegen partikulare Interessengruppen, auf deren Bedürfnisse reagiert wird und denen unter Umständen geholfen werden muss.
In der politischen Rhetorik der Bundesrepublik von 1980 fühlte man sich hingegen eher „dem Bürger“ gegenüber verantwortlich. Dieser Bürger wurde oft im Singular aufgerufen, wo er pars pro toto für „deutsche Staatsbürger“ stand. Außerdem wurde die weibliche Form damals oft noch nicht mitbenannt. Der Bürger war, ähnlich wie „die Menschen“, zwar ein Betroffener, doch dabei wesentlich aktiver, fordernder und immer auch in konkreter Beziehung zur Politik stehend, die durch ihn kontrolliert wurde.
Rhetorische Schnipsel aus dem Plenarprotokoll von 1980:
- „Die Bürger haben es satt…“;
- „Bürger erwarten eine Politik, die …“;
- „Lösungen, die die Bürger akzeptieren können“;
- „denkende, der Geschichte und der Zeitgeschichte bewußte Bürgerinnen und Bürgern in unserem Lande, die mit dieser Feststellung nicht übereinstimmen“.
- „Hilfreich wäre es, wenn der Deutsche Bundestag, … jetzt die Mittel bereitstellen würde … den Bericht drucken und jedem interessierten Bürger zuleiten zu können; denn für die Bürger haben wir ihn erarbeitet.“
- „Das Energiethema soll gegenüber der Öffentlichkeit … verschleiert werden, damit … die Bürger nicht auf den Gedanken kommen, der Regierung unliebsame Fragen zu stellen.“
- „Ich halte es schlicht für eine Anmaßung des Staates, über die Gewissen seiner Bürger richten zu wollen“
„Wähler“ sind in der Plenarsitzung von 1980 konkrete Personen, die eine bestimmte Partei-Politik unterstützen („linke Wähler“, „unsere Wähler“, „Ihre Wähler), quantitativ sind sie genauso unbedeutend wie „Leute“ („Ihre Leute“, „junge Leute“).
In der Sitzung von 2017 werden „Wähler und Wählerinnen“ ebenfalls sehr selten erwähnt. Es gibt allerdings eine kleine Bedeutungsverschiebung: Wähler sind die Personen, die ein politisches Stimmungsbild oder Umfragewerte generieren. Man kann „Wähler bekommen“ (und wird nicht etwa durch Wähler beauftragt). „Erklären Sie bitte auch das Ihren Wählerinnen und Wählern, und schauen Sie danach bitte erneut auf Ihre Umfragewerte!“ „Leute“ wird etwas abwertender verwendet: „solche Leute“, „diese Leute“, „Leute“, die zu „islamistischen Mörderbanden nach Syrien gesandt werden“, sind aber auch 2017 kein stehender politischer Begriff.
Es wäre kulturwissenschaftlich lohnenswert zu untersuchen, ob diese Eindrücke sich bestätigen, wenn man eine größere Anzahl von Parlamentsprotokollen, aber auch Presse, Rundfunk und Fernsehen auf den Wandel von „Bürger“ zu „Menschen“ untersucht.
- Wann vollzog er sich?
- Was sind die Ursachen dafür, dass es den aktiven Staatsbürger, der das Parlament kontrolliert, der sich politisch engagiert, dem gegenüber die Politik Rechenschaft ablegt, in der politischen Rhetorik kaum noch gibt?
- Dass er abgelöst wurde von „den Menschen in diesem Lande“, die eher an eine Schaf-Herde als an den vernunftbegabten und politisch handelnden Menschen der Aufklärung erinnern …?
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