Ein Bild entsteht in mehreren Schichten. Ich habe eine ungefähre Idee zum Thema, zu Strukturen, Beziehungen, Stimmungen und Farben. Manchmal aber fange ich einfach an. Das, was zuerst auf die Leinwand oder das Papier kommt, hat meist etwas Vorläufiges, Unfertiges. Ein Dialog beginnt, der vor allem von der Frage bestimmt ist, ob das, was da ist, „richtig“ ist, an seinem richtigen Ort, mit der richtigen Spannung, in den richtigen Beziehungen zu allen anderen Elementen. Stimmt die Komposition, drückt sich etwas aus, was ich für bedeutsam halte? Tempera, Acryl und Öl erlauben Schichtungen und Korrekturen, und manchmal entwickelt sich ein Bild in eine ganz andere Richtung als ursprünglich intendiert.
Mit Texten kann es genauso sein. Das Medium Schriftsprache erlaubt
– gerade im Zeitalter nach der Handschrift und nach der Schreibmaschine – ebensolche Schichtungen im Text. Während diese im Bild aber räumliche Dimensionen besitzen und unter der Oberfläche das Alte, Verworfene verborgen, aber prinzipiell zugänglich bleibt, verschwinden in den diversen Korrekturen, die man Texten im Schreiben am Computer angedeihen lässt, seine Vorstufen, Verwerfungen – oder auch Fehler.
So vergisst man leicht, dass der Text, bevor er herzeigbar ist, viele manchmal auch verzweifelte Vorstufen des Nicht-Wissens, Andeutens, des Unklarseins, der Abgelenktheit, der Abschweifung, der barocken Fülle oder der allzu apodiktischen Knappheit, des Faden-Verlierens oder der Resignation besaß, die sämtlich verlorengegangen sind.
Reicht ein Autor oder eine Autorin heute ein Manuskript bei einem Verlag (oder wahrscheinlicher erst einmal bei einem Literaturagenten) ein, sind die Entwicklungsschritte des Textes meist nicht mehr nachvollziehbar. Sie waren vielleicht noch für einige Minuten im digitalen Arbeitsspeicher oder in den im Hintergrund abgelegten Temp-Dateien vorhanden, sie gehen dann aber schnell unrettbar verloren.
Dadurch mag man vergessen, welch vielschichtige, mehrdimensionale und dialogische Arbeitsschritte das Verfertigen eines Textes eigentlich mit sich bringt – manchmal zeugen noch die Flüchtigkeitsfehler, die Lektorinnen oder Lektoren beseitigen, davon, dass ein Satz ursprünglich anders aufgebaut werden sollte. Oder wir finden andere kleine Spuren der Vorläufigkeit, die wir dann beseitigen, um dem Skript den Anschein von Letztgültigkeit zu geben.
In den bis Ende August im Martin-Gropius-Bau ausgestellten autographischen Manuskriptseiten zu Franz Kafkas „Prozess“ erkennt man die Linearität des Textes durch die Reihung der Blätter in den Vitrinen. (Normalerweise sind analoge Manuskripte gestapelt und werden umgeblättert.) Man muss voranschreitend Distanz überwinden und sich bücken und steht so in einer direkten körperlichen Beziehung zum Text. (Ganz anders, als wenn man im Café beim Cappuccino in eingefrorener Pose die Hände über die Tastatur streichen lässt – und abgelenkt ist von parallel eingehenden Nachrichten oder Ideen, die sich sofort im Browserfenster eingeben lassen und digitale Reaktionen generieren.)
Kafkas Korrekturen am Text, meist Durchstreichungen, sind nachvollziehbare Entscheidungen über seine Form und seinen Verlauf; und man könnte sich fragen, welcher Text eigentlich entstanden wäre, wenn die gestrichenen Absätze Eingang gefunden hätten in das Werk. Dazu ist Zeit nötig, Stehenbleiben, sich Bücken, die Lupe oder die Brille aufsetzen, sich Dinge merken. Dazu ist es nötig, sich dem Text zu widmen und das Gefühl von Wichtigkeit und Interesse zu empfinden.
Kafkas bekannten Wunsch nach Vernichtung seiner Schriften im Kopf kommt die materielle Vielschichtigkeit und Dialogizität von Literatur zum Vorschein. Die Geschichte ihrer Hergestelltheit, die zeitliche Dehnung zwischen Idee, Niederschrift und Publikation, die Zwischenschritte und gravierenden Entscheidungen, die dazu führen, ob und wie ein Text überhaupt in die Sphäre der Rezeption eintritt.
Bilder haben keine Lektoren, ich bin mit der Farbe, dem Untergrund und den Bewegungen meiner Hände allein. Und das, was entsteht, braucht keine Redaktion und niemand anders nimmt meine Materialien in die Hand und schichtet und korrigiert weiter. Möglicherweise frage ich jemanden um seine Meinung und höre, dass dieses zu groß wirkt oder jenes zu undeutlich oder dass etwas deutlich im Vordergrund ist. Dadurch eigne ich mir also einen Blick von außen an und frage mich, ob die Beziehung des anderen zum Bild meiner Beziehung zum Bild nahe genug kommt, um noch eine Veränderung anzustoßen.
Beides: Malen und Schreiben, sind dialogische Prozesse. Im Malen findet der Dialog hauptsächlich mit mir selbst statt, im Schreiben sprechen diverse Stimmen und Autoritäten in meinen Text hinein und verzerren ihn oder können ihn gar zum Verstummen bringen. Meine Idee ist, dass dieses Verstummen aufhören kann, wenn ich den Text wie ein Bild betrachte, an dem ich arbeite, im Dialog mit mir selbst.
Dadurch, dass die Schichtungen im digitalen Schreiben unzählige sein können, ohne dass ein nicht mehr beherrschbares Manuskript-Chaos entsteht, gewinne ich Freiheit. Denn am Computer zu schreiben, erlaubt tausende Durchstreichungen, Überarbeitungen, ohne dass Materialität mich bremst. Kein Papierkorb schwillt an, keine Papierknäuel stapeln sich auf dem Schreibtisch, keine Tinte geht aus. Dadurch entsteht vielleicht gleichzeitig ein Gefühl der Unendlichkeit und Vergeblichkeit.
Wenn ich aber diese Unendlichkeit begrenze, indem ich den Text als Dialog betrachte, und zwar im besten Fall mit mir selbst, und indem ich eine Idee verfolge und mich leiten lasse, wie bei einem Bild, wenn ich mich intuitiv (oder sogar ästhetisch) frage, ob die eingeschlagene Richtung stimmig ist und repräsentiert, was an die Oberfläche des Gesagten kommen soll, dann entsteht vielleicht so etwas wie ein innerer Leitfaden, der Selbstkritik und antizipierte Fremd-Kritik eindämmt. Und dadurch wieder etwas mehr Lust am Produzieren und weniger Angst vor einem eigentlich ja unmöglichen Scheitern.
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