Faire Honorare? Was ist los ist auf dem Texter*innen-Markt?
Folgendes halbfiktives Szenario: Ich nehme den Auftrag an, einen Artikel für eine Website zu erstellen. Gefragt ist hochwertiger Inhalt, recherchiert, fundiert mit Quellen belegt, ansprechend geschrieben, versiert klingend, SEO-optimiert, 1000 Wörter. Honorar: ca. 2 Cent pro Wort, macht ca. 20 Euro bei Fertigstellung.
Ich gebe die Nutzungs- und Verwertungsrechte an den Auftraggeber ab. Er wird niemals meinen Namen erfahren, denn ich bin ein anonymer Avatar auf einer kommerziellen Plattform, die vom Auftraggeber gleich auch noch mitbezahlt wird. Die Plattform läuft gut.
Brutto-Einkünfte von 5 bis 10 Euro pro Stunde
Unter welchen Umständen ist es sinnvoll, sich die Arbeit zu machen, einen hochwertigen Text à 1000 Wörtern für 20 Euro zu schreiben?
a) Ich erstelle den Auftrag in einer halben Stunde und komme so auf 40 Euro Stundenlohn.
Und das ist für Freiberufler*innen, die hauptberuflich tätig sein wollen, schon ein honorartechnischer Ausrutscher in riskante Regionen. Es bedeutet jedenfalls, ich benötige eine Recherchier-, Denk-, Schreib- und Lektoratsgeschwindigkeit von 33-35 Wörtern pro Minute. Ohne Pause.
Ich rattere den Text also wie aus einem Guss druckfertig herunter, denn ich bin, das weiß nur niemand, Cyborg mit eingebautem Internet, Rechtschreib- und Lektoratsprogramm und habe das Thema schon dutzende Male durchdacht und referiert. Es fließt nur so aus mir heraus, inclusive Struktur, rotem Faden, guten Argumenten und Quellen.
Maximal unrealistisch…
b) Ich gebe mich mit einem Brutto-Stundenlohn von 5-10 Euro für den Text zufrieden und habe meine Gründe dafür (*frei ausfüllen*)
Ich mache mir also Gedanken über die Zielgruppe, die Wünsche des Auftraggebers, den nötigen Stil und die Struktur des Textes. Ich recherchiere. Ich schreibe – etwas gehetzt – mit einer Geschwindigkeit von 200 bis 500 Wörtern pro Stunde. Dazwischen immer wieder kurze Abschweifer ins Netz. Zum Nachlesen. Und Pausen im Kopf. Zum Nachdenken. Ich lektoriere am Ende alles noch einmal selbst und ärgere mich über entdeckte Schreibfehler und unklare Passagen. Ich bessere nach.
Kann ich diesen Text guten Gewissens abgeben? Das Ja steht bei 1000 Wörtern geschätzt nach vier Stunden fest. Wenn es flüssiger läuft und das Thema mir sehr geläufig ist, vielleicht schon nach zwei Stunden. Macht einen Stundenlohn von 5-10 Euro. Brutto.
Ich bin meine eigene Arbeitgeberin und daher auch Buchhalterin. Daher weiß ich, dass ich als Hauptberuflerin mit diesem Job 2,50 bis 6 Euro Gewinn erzielt haben würde. Macht einen Cappuccino – oder auch zwei…
Wird Texten bald ein Ehrenamt?
Das ist der Markt. Angebot und Nachfrage. So glauben es jedenfalls viele. Auch außerhalb der bekannten Texterbörsen bieten sich Texter*innen mit allerbesten Qualitäten, Referenzen und langjährigen Erfahrungen unterwürfig an, doch bitte, bitte Texte aller Art schreiben zu dürfen, von SEO-Kram bis zu fertigen E-Books oder Fachartikeln.
Sie sagen, sie machen das alles für 2 Cent pro Wort, gern auch weniger, und übersehen, dass Auftraggeber auf den einschlägigen Billig-Börsen immerhin das Doppelte zu zahlen bereit sind, weil ja ungefähr die Hälfte des Preises für einen Text an die Plattform geht!
Wenn Texter*innen außerhalb dieser Börsen nach Jobs suchen, warum nutzen Sie die Chance nicht, ihre Honorare wenigstens zu verdoppeln? Die Auftraggeber sind ja dazu bereit. (Und zu noch viel mehr.) Und gute Texte sind extrem gefragt.
Aber die Realität liegt anders: Ich habe mehrere tausend Kolleg*innen; und manche von ihnen würden einen hochwertigen unique content-Text auch für 1,5 Cent pro Wort schreiben, für Taschengeld. Egal, wie viel Zeit das kostet.
Weil sie es sich (nicht) leisten können…
Es bereitet mir Kopfzerbrechen, wie grundlegend dieses System der Dumpingpreise durch sich selbst gestützt wird: Wenn ein*e Texter*in vorübergehend keine ausreichenden Einkünfte hat, und das ist in freien Berufen nicht immer sehr unwahrscheinlich, besteht ein Anspruch auf aufstockende Leistungen vom Jobcenter.
Und in diesem Fall kann man es sich absurderweise leisten, Aufträge anzunehmen, die unterhalb des Mindestlohns vergütet werden.
Unterirdische Honorare erschweren es nur leider auch, aus dem Bezug von staatlicher Unterstützung wieder herauszukommen. Genaugenommen handelt es sich bei diesem System daher um einen indirekt vom Staat (manchmal auch von Eltern oder Ehepartner*innen) subventionierten Markt.
3 Gründe, für wenig Honorar zu arbeiten
Es kann trotzdem Gründe geben, solche Aufträge anzunehmen:
1. Ich brauche ganz, ganz dringend Geld.
Es gibt auf den Texter-Börsen so viele Aufträge, dass ich innerhalb weniger Tage garantiert Einkünfte erzielen werde.
2. Ich will Erfahrungen sammeln und lernen.
Auch dazu eignen sich die Börsen oder schlecht bezahlte Aufträge. Ich kann mein Schreibtempo einschätzen und versuchen, effektiver und schneller zu texten. Ich finde heraus, was am Markt gefragt wird, welche Inhalte gerade in sind. Ich lerne, welche Themen mir liegen und Spaß machen.
3. Ich habe als Texter*in gegenwärtige eine Flaute.
Wer Mischkalkulation betreibt, gleicht schlecht bezahlte durch fair bezahlte Aufträge wieder aus.
(Na) Logo (!): Faire Honorare für freie Berufe
Doch was würde passieren, wenn unverschämt klingende Jobs („Schreiben Sie mir ein E–Book im Umfang von 10 000 Wörtern, das sich top verkaufen wird, für 150 Euro und geben Sie alle Rechte an mich ab!“) einfach nicht mehr angenommen werden? Unrealistisch. Dieses Buch wird wohl entstehen.
Aber Vertreter*innen der freien Berufe können selbst etwas an den Marktbedingungen schrauben, wenn sie aufhören, sich gegenseitig in den Honorarforderungen zu unterbieten.
Wer ist auf die sinnlose Idee gekommen, Texte nach Wortanzahl honorieren zu lassen? Worte sind nicht billig. Denken ist nicht billig. Schreiben ist nicht billig. Texten hat eine Würde – und diese Würde kann zurückerobert werden.
Das Logo können Sie frei verwenden, abändern, verbreiten und teilen. Sie können es als Stoppschild für Ihre Honorar-Untergrenze auf dem freien Markt begreifen.
Zur Information: Das landesübliches Durchschnittseinkommen liegt bei ca. 1800 Euro netto (was 1800 Euro Gewinn nach Abzug von Steuern, Versicherungen, laufenden Betriebskosten und Werbung entsprechen würde). (Quelle)
Die Armutsgrenze liegt bei 780 Euro für Singles, 1170 Euro für Paare.
3 Überlegungen, die Sie anstellen sollten, wenn Ihnen 2-Cent-pro-Wort-Aufträge angeboten werden
1. Sammeln Sie Erfahrungen mit Ihrem Schreib- und Recherchetempo.
Rechnen Sie dann die angebotenen Cent/Wort-Honorare in Stundensätze um.
Bedenken Sie, dass es auf den einschlägigen Börsen immer auch zu Änderungswünschen durch die Auftraggeber kommen kann, weil das Briefing zum Auftrag mißverständlich war. Das drückt den Stundenlohn zusätzlich.
Je nach Betriebsform: Ziehen Sie vom errechneten Stundenlohn Steuern, Versicherungen, laufende Betriebsausgaben und Werbemaßnahmen ab, um auf den Gewinn zu kommen. Und selbst wenn Sie lediglich Nebeneinkünfte erzielen wollen und alles Netto auf Ihr Konto kommt: Vergegenwärtigen Sie sich trotzdem das erzielte Stundenhonorar.
2. Machen Sie sich über Ihren Selbstwert Gedanken.
Wie fühlen Sie sich, wenn Sie perfekte Arbeit für ein Taschengeld abliefern und Ihr Auftraggeber davon mitunter jahrelang profitieren wird?
Wie fühlen Sie sich, wenn Ihre Arbeit nicht wertgeschätzt wird und herablassend und fordernd mit Ihnen umgegangen wird?
Wie fühlen Sie sich, wenn es Ihnen als Lottogewinn verkauft wird, dass Sie überhaupt für jemanden texten dürfen?
Wie fühlen Sie sich, wenn Sie Ihre Arbeit mit all Ihren Qualifikationen, Fertigkeiten und Erfahrungen im Hintergrund zu Honoraren anbieten, die noch unter dem liegen, was Schüler*innen beim Zettelverteilen auf der Strasse verdienen?
Wie groß ist die Differenz zwischen dem, was Sie wert sind und dem, was Ihnen als Honorar angeboten wird?
Wie klein können Sie sich noch machen?
3. Ihre Auftraggeber sind in den allermeisten Fällen nicht arm.
Intellektuelle und kreative Arbeit wird in allen Qualitätsstufen immer gefragt sein. Durch fehlerfreie, gute (Werbe-)Texte schaffen Sie Mehrwert und halten die Volkswirtschaft am Laufen. Die Auftraggeber profitieren unmittelbar von Ihren Texten. Sie helfen ihnen, Umsätze zu generieren: Eine leere Homepage wird nicht gefunden. Ein schlechtes E-Book verkauft sich nicht.
Werbemaßnahmen können von den Auftraggebern auch noch von den Steuern abgesetzt werden. Es ist also absolut nicht nötig, dass Sie sich altruistisch aufopfern, Ihren Wert verleugnen und sich den Stress aufladen, den unterirdische Honorare auslösen.
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Cyanid (Samstag, 14 März 2020 01:08)
Hallo Frau Augsburger,
Ich führe selbst ein Blog (nicht kommerziell), in dem ich über die Erfahrung mit unterschiedlicher Online-Arbeit – Umfrageportale, Textbörsen, Mikrojobs beim Crowdworking allgemein – und unterschiedlichen Anbietern berichte. Dabei bin ich auch über euren Artikel gestolpert und habe ihn mal unter meinem Beitrag verlinkt:
https://online-arbeiten.net/blog/textboersen/textboersen-pro-und-contra/
Leider kann ich Ihnen auf Basis meiner Erfahrungen nur recht geben. Im Textmarkt herrscht ein enormes Dumping, gegen das sich viele Menschen in prekären Situationen (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Berentung) nicht wehren können. Leider übersehen Politik und Wirtschaft hier geflissentlich, dass solche Auswüchse erst durch das Fehlen einer verbindlichen Untergrenze (Mindesthonorar vergleichbar Mindestlohn) zustandekommt. Ich befürchte daher, dass sich daran so schnell nichts ändern wird.
Liebe Grüße
Cyanid
Manuela (Freitag, 20 November 2020 16:41)
Ein realitätsnaher Artikel, der auch noch im Jahr 2020 aktuell ist.