„Alternative Fakten“ wurde am 16. Januar 2018 zum Unwort des Jahres 2017 gekürt, mit einer wie ich finde sehr treffenden Begründung: Der Begriff (der im amerikanischen Englisch durch Trumps Beraterin Kellyanne Conway geprägt wurde) stehe „für die sich ausbreitende Praxis, den Austausch von Argumenten auf Faktenbasis durch nicht belegbare Behauptungen zu ersetzen, die dann mit einer Bezeichnung wie „alternative Fakten“ als legitim gekennzeichnet werden“. (Quelle)
Allerdings ist das dahinterliegende philosophische und erkenntnistheoretische Problem keineswegs trivial und betrifft genauso die grassierenden „Fake News“-Vorwürfe:
Das Hinterfragen von Aussagen, Behauptungen und Wertesystemen gehörte zu den kritischen Tugenden, die in den geisteswissenschaftlichen Studiengängen meiner Generation gemeinhin vermittelt wurden. Es ging in den kritischen Kulturwissenschaften, Gender Studies, in der Soziologie und Politologie darum, die Konstruiertheit von Denksystemen aufzudecken, die materiellen und strukturellen Hintergründe von Aussagen zu ergründen, Wahrheiten in Relation zu setzen zu ihren kulturellen Bedingungen.
Im Studium der Philosophie war genau dieser Relativismus oftmals der unsichtbare Gegner, gegen den man das Denken verteidigen musste:
Ging es in der Philosophie doch gerade um das, was jenseits von Relativierung und Historisierung Bestand hat als Vernünftiges, Geteiltes, Intersubjektives und auch moralisch Richtiges. Dabei zeigt sich, dass dieses ultimativ Gültige weder leicht herauszudestillieren noch moralisch zu begründen ist und dass der Kampf gegen den Relativismus nie so recht gewonnen werden kann – das war zumindest mein pessimistisches Fazit.
Schon allein das, was ein Faktum (Gegebenes) ist, durchläuft bis zur sprachlichen Aussage, dass es sein Faktum sei, verschiedene Filter, vor allem Wahrnehmungsfilter und sprachliche Filter. Der Zugang zu Fakten und die Einigung darauf, was ein Faktum ist und dass die Aussage, etwas sei ein Faktum, richtig ist – dies sind alles andere als einfache Prozesse.
Blosse bestehende soziale Autorität – zum Beispiel die einer journalistischen Institution – ist kein Garant für Richtigkeit von Aussagen, denn auch journalistische Texte sind fehleranfällig. Journalistisches Schreiben beruht häufig auf dem Zitieren und Interpretieren von schon bestehenden Texten, dabei geschehen hin und wieder Fehlzitate und Fehlinterpretation (siehe den folgenden Artikel), auch in renommierten Blättern. Der durchaus angebrachte, kritische Skeptizismus gegenüber Fakten und Bildern kann aber auch bis zur Paranoia gesteigert werden: Dann wird die Presse generell zur staatsmachtdienenden „Lügenpresse“ und „alternative Erklärungen“ für Erscheinungen blühen auf, die oftmals eher an Psychosen als an Wirklichkeit erinnern.
Die Frage, wie man Wahrheit von Täuschung, wie man kritisches Denken von Paranoia und Verschwörungstheorie unterscheiden kann, lässt sich kaum in wenigen Worten zusammenfassen.
Trotzdem teilen viele das mulmige Gefühl, wenn mit den Begriffen „Fake News“ und „alternative Fakten“ der Wahrheitsgehalt von sprachlichen Aussagen über die Welt zur Frage von bloßem „Vertrauen/Mißtrauen“, „Sympathie/Antipathie“ oder „gutem Glauben“ gemacht wird. Denn dann würde die Frage nach der erwähnten „Faktenbasis“ zur Frage degradiert, wem man am ehesten geneigt ist, Vertrauen zu schenken und dadurch zu einem rein sozialen Problem.
Was aber, wenn es tatsächlich keinen Anhaltspunkt für Wahrheit und Richtigkeit mehr gibt und alles nur noch eine Frage des „Framing“ ist: Ist dann nicht eigentlich ein jedes Weltbild brüchig, und ist dann die Richtigkeit von Überzeugungen (ethischen und auf Fakten bezogenen) einfach eine Frage der Stärke und Durchsetzungskraft ihrer Anhänger?
Das Unwort des Jahres wird seit 1991 gewählt. Initiator war der Literaturwissenschaftler Horst Dietrich Schlosser, seitdem entscheidet jährlich eine ehrenamtliche und institutionell unabhängige Jury aus vier ständigen (sprachwissenschaftlich ausgebildeten) Mitgliedern und einem „kooptierten Mitglied“ über das Unwort des Jahres.
Kriterien für die Wahl sind Wörter, die den Grundsätzen der Menschenwürde und Demokratie widersprechen, die unmenschliche Praktiken verschleiern, euphemisieren oder Menschengruppen diskriminieren. Vorschläge können jedes Jahr von jeder Person per Mail unter Angaben der Quellen eingereicht werden. Basis für die Auswahl des Unwortes des Jahres ist nicht statistisch die Anzahl der Einsendungen oder die Häufigkeit des Gebrauchs, sondern eine „inhaltliche Diskussion“ vor allem darüber, wie gravierend das Un-Wort die Wertegrundsätze oder die Würde von Menschen verletzt.
Die Sprecherin der Jury, Nina Janisch, sieht in der Initiative einen Beitrag für eine Sprachkritik, die gleichzeitig einer ethischen Ebene verpflichtet ist. („Verantwortung für das, was man sagt, und Respekt vor der Würde des Anderen“) (Quelle)
So kompliziert die Relativierung des ethischen Relativismus ist, so beruhigend ist doch vielleicht ein Unterscheidungsmerkmal zwischen „ideologischer Behauptung“ und „ethischem Wahrheitsanspruch“ – die Bereitschaft zur Selbstkritik.
Fehlt diese Bereitschaft zur Selbstkritik des eigenen Sprachgebrauchs, der eigenen Recherche-Methoden und des eigenen ethischen Hintergrunds, kann man davon ausgehen, dass kein Interesse an Austausch und gemeinsamer Wahrheitsfindung, an einem gemeinsamen Diskussionsprozess besteht. Wer Fake News ruft, aber Kritik an eigenen „News“ oder „alternativen Fakten“ nicht zulässt, wohnt in einer geistigen Behausung, die Tendenzen zur Paranoia hat und nicht mehr vermitteln und teilhaben will an der Frage, wie Wahrheit eigentlich gefunden werden kann. Aber auch umgekehrt darf ein "Unwort des Jahres" nicht dazu dienen, die Diskussion um das, was richtig und wahr ist, aufzugeben und kritikwürdige Tendenzen einfach zu tabuisieren.
Kommentar schreiben